Der vergessene Papstrücktritt

Trotz unterschiedlicher Bewertung des bevorstehenden Rücktritts von Papst Benedikt XVI. sind sich praktisch alle Medien in einem Punkt einig: Abgesehen vom Rücktritt des sogenannten „Engelspapstes“ Cölestin V. 1294 sei der des Jahres 2013 „präzedenzlos“ (NZZ vom 15.2.). Das ist jedoch falsch. Auch während des Konstanzer Konzils 1415 gab ein Papst sein Amt auf: Gregor XII. Und dieser Rücktritt ist genauer betrachtet sogar der kirchenrechtlich wichtigste gewesen.

Cölestins V. Rücktritt vom Amt des Papstes nach nur wenigen Monaten und sein weiteres Leben sind hoffentlich kein böses Omen für Joseph Ratzinger. Schließlich führte die Überlegung des neuen Papstes Bonifaz VIII., der alte Papst könnte für eine Gegenfraktion in der Kurie oder der europäischen Mächte gegen ihn als neuen Papst in Stellung gebracht werden, zu drastischen Maßnahmen: Nach erfolgloser Flucht des Ex-Papstes ließ Bonifaz VIII. ihn auf der Festung Fumone (Region Latium) einkerkern, wo er in einer Kleinstzelle 16 Monate später verstarb. Übrigens war Bonifaz VIII. vor seiner Wahl als Benedetto Caetani einer der Kardinäle, die Cölestin juristisch berieten, auf welchen Grundlagen des Kirchenrechtes ein Rücktritt überhaupt möglich war. Immerhin wurde Cölestin schon 1313 heiliggesprochen. Ansonsten blieb jedoch dieser Papstrücktritt praktisch folgenlos.

Ganz anders hingegen der Rücktritt Papst Gregors XII., alias Angelo Correr. Seit 1406 Papst und bei seiner Wahl schon ca. 80 Jahre alt, galt er aufgrund seines Alters als „Übergangspapst“ und sicherte schon bei seiner Wahl zu, dass er zurücktreten würde, falls dies auch Benedikt XIII., sein Gegenspieler während des abendländischen Schismas, täte. Damit wäre der Weg für einen einzigen Papst frei gewesen, den es seit der doppelten Papstwahl 1378 nicht mehr gegeben hatte. Beide Päpste jedoch blieben starrsinnig und so kam es zu dem – von der katholischen Amtskirche heutzutage nicht anerkannten – Konzil zu Pisa (1409), wo die meisten der damals existierenden Kardinäle einerseits den aus Griechenland stammenden Petros Philargi und Erzbischof von Mailand zum Papst mit Namen Alexander V. kürten und anderseits die beiden konkurrierenden Päpste Gregor und Benedikt absetzten. Beide abgesetzten Päpste jedoch behielten Teile ihrer Anhängerschaft, akzeptierten die Absetzung nicht und somit gab es nunmehr drei Päpste, die um das Petrusamt stritten. Alles dies sollte sich erst auf dem Konstanzer Konzil (1414-1418) ändern.

Der neue römisch-deutsche König Sigismund wollte das Problem des sogenannten Schismas, d. h. der Situation mit nunmehr drei konkurrierenden Päpsten auflösen. Davon überzeugte er den Nachfolger Alexanders V., den Neapolitaner Baldassare Cossa, der 1410 in Bologna zum Papst Johannes XXIII. gewählt wurde. Das Ergebnis war das Konzil zu Konstanz, dessen Einberufungsbulle am 9. 12. 1413 von Lodi, der heutigen Partnerstadt von Konstanz, verschickt wurde. Der König lud in eigenen Schreiben alle drei vorhandenen Päpste nach Konstanz ein. Tatsächlich jedoch kam nur Johannes XXIII. Dessen Idee und die seiner vielen Anhänger war, die Wahl von Johannes XXIII. zu bestätigen, die anderen Päpste Gregor XII. und Benedikt XIII. nochmals für abgesetzt zu erklären und damit das Konzil zu beenden. Im Lager dieses Papstes ging man von einer Dauer des Konstanzer Konzils von maximal vier Monaten aus. Eine Mehrheit der Teilnehmer aus aller Herren Ländern Europas allerdings kam zur Überzeugung, dass ein gemeinsamer Rücktritt oder auch gegebenenfalls die Absetzung aller drei Päpste mit anschließender Neuwahl in Konstanz der sicherste Weg wäre, um das Papstschisma zu beenden und wieder Ruhe in das katholische Europa zu bringen. Johannes XXIII. war mit dieser Idee selbstverständlich nicht einverstanden und floh im März 1415 aus Konstanz. Nach längerer Flucht wurde er gefangen genommen, abgesetzt und bis 1419 in Mannheim in Haft gehalten. Er ging nach Florenz zurück und hat sein Grab im dortigen Baptisterium vor der Kathedrale. Währenddessen waren in Konstanz die Vertreter des greisen Papstes Gregor XII. erschienen. Dieser Papst nun war zur Aufgabe seines Amtes bereit und ließ am 4. Juli 1415 seinen Rücktritt erklären. Da in der heutigen offiziellen katholischen Geschichtsschreibung Gregor als der damals rechtmäßige Papst gilt, haben wir hiermit also den zweiten Rücktritt der Papstgeschichte.

Folgenschwerer Rücktritt mit Bedeutung bis heute

Zeitigte der Rücktritt von Cölestin V. keine größeren Folgen, so ist bei Gregor XII. das Gegenteil der Fall. Man kann sogar behaupten, dass sein Rückzug es der heutigen konservativen katholischen Geschichtsschreibung erst ermöglicht hat, „gefährliche“ Fragen über die absolute Autorität des Papstes, seine „Unfehlbarkeit“ und die Rolle von Konzilien zu unterdrücken. Wie kann das sein?

Eine Bedingung Papst Gregors XII. für seinen Rücktritt war, dass er das Konstanzer Konzil nach dessen offizieller Eröffnung am 5. 11. 1414 noch einmal neu einberufen durfte, so dass auch von seiner Seite bzw. seiner Obödienz (Anhängerschaft) dieses allgemeine Konzil als eröffnet galt. Diese zweite Eröffnung fand am 4. 7. 1415 statt. Von den Zeitgenossen wurde dieser Akt zwar nicht für wichtig genommen, aber im Zwanzigsten Jahrhundert bekam er eine große Bedeutsamkeit. Warum?

Hier beginnt der spannende Teil: Nach der Flucht von Papst Johannes XXIII. im März 1415 erließ das Konstanzer Konzil am 6. 4. 1415 das berühmte Dekret „Haec Sancta“. In diesem offiziellen Konzilstext wurde die Oberhoheit der Konzilien über den Papst erklärt. Dort heißt es wörtlich:

„Jeder, gleichwelchen Standes, gleichwelcher Position oder Würde, selbst der päpstlichen, der den Anordnungen, Bestimmungen, Verordnungen oder Vorschriften dieser heiligen Synode und jedes weiteren legitim versammelten Konzils unter diesen Prämissen... (sc. im Hinblick auf Glauben, Bereinigung eines Schismas und Kirchenreform: der Übersetzer) hartnäckig den Gehorsam verweigert, verfällt, wenn er nicht zur Besinnung kommt, einer angemessenen Strafe, wobei auch gegebenenfalls auf andere Mittel zu rekurrieren ist.“

Wie nun passt dieser Text zur definierten Unfehlbarkeit des Papstes, die während des Ersten Vatikanischen Konzils 1870 als Dogma verkündet wurde? Wie steht es überhaupt um fundamentale Widersprüche zwischen verschiedenen Konzilien?

Konservative Kirchenhistoriker, insbesondere der ehemalige „Chefhistoriker“ des Vatikans und heutige Kardinal Walter Brandmüller und seine Schüler, welche Kirchengeschichte mit ausgesprochen „katholischer Tinte“ schreiben, beantworten diese Fragen äußerst elegant.

Da das aus ihrer Perspektive ärgerliche Dekret „Haec Sancta“ bereits im April 1415 verabschiedet wurde, der – aus heutiger Sicht – „richtige“ Papst Gregor XII. aber erst im Juli 1415 im Zuge seiner Abdankung das Konstanzer Konzil „wirklich“ einberufen habe, gebe es also für die katholische Kirche kein bindendes Dekret zur Oberhoheit der Konzilien über den Papst, das während eines offiziellen „allgemeinen Konzils“ erlassen wurde. Brandmüller locutus, causa finita.

Fazit: Durch den Papstrücktritt Gregors XII. am 4. Juli 1415 gab es eine Neueinberufung des Konstanzer Konzils, und damit erspart man sich die Diskussion über die Allmacht des Papstes innerhalb der katholischen Kirche.

So folgenschwer kann der jetzige Papstrücktritt Benedikts XVI. gar nicht sein.