Zahlen, Zahlen, Zahlen

Bei fast jeder Stadtführung zum Thema „Konstanzer Konzil“ taucht die Frage nach der Zahl der Teilnehmer bei dieser Großveranstaltung auf. Antworten finden sich beispielsweise in den verschiedenen Ausgaben der Richentalchronik. Im Allgemeinen werden diese Zahlen in der Sekundärliteratur jedoch für zu hoch gehalten. Manchmal aber liegt der Fehler nicht bei Richental, sondern beim Herausgeber! Hierzu ein schönes Beispiel:

Zu Recht bemerkt Joseph Riegel in seinem immer noch grundlegenden Werk „Die Teilnehmerlisten des Konstanzer Konzils“1: „Am 6. März 1415 sollen nach dem Berichte der Chronik allein auf einmal anderthalbhunderttusende menschen, frowen und man und kind anwesend gewesen sein, des Papstes Segen zu empfangen. Die Summe aller Teilnehmer überhaupt aber war nur 72460 Personen. Diese Zahl war zweifelsohne das Ergebnis der städtischen Statistik. Richentals eigene Angabe aber ist nichts anderes als die Übertreibung eines Konstanzer Zeitgenossen und Augenzeugen; aus dem Bestreben heraus entstanden, den Ruhm der Stadt zu mehren, die jahrelang imstande war, einen so großen Fremdenstrom aufzunehmen und unterzubringen.“2 150 000 Menschen versammelt auf einem Platz in Konstanz? Da kann etwas nicht stimmen. Übertreibungen von Teilnehmerzahlen bei Schlachten, Umzügen oder Versammlungen sind bei mittelalterlichen Texten bekanntlich Standard. Aber schauen wir doch mal in die Quellen selbst, sprich in diesem Fall in zwei Ausgaben der Richentalchronik.

So heißt es z. B. in der im Konstanzer Rosgartenmuseum aufbewahrten Ausgabe der Richentalchronik anlässlich der vom neuen Papst Martin V. am 6. März 1418 gehaltenen Messe: „Und was uff dem Obern hoff3 sovil frömds volcks, das erst by vier mil wegs in die stat komen was zu anderm frömden volck, das man maint, es wär by hundert tusent und fünfzig tusent menschen da, frowen und man“4.
Die Konstanzer Ausgabe diente der Selbstrepräsentation der Stadt und sollte tatsächlich die Leistungsfähigkeit der Kommune betonen. Wie aber steht es mit den anderen Versionen des Richentaltextes?
Als wohl älteste überlieferte Ausgabe der Richentalchronik gilt die nach ihrem ehemaligen Aufenthaltsort benannte Aulendorfer Chronik, die sich heute allerdings in New York befindet. Der Text dieser Ausgabe wurde schon 1882 ediert5 und bildete bislang die zitierfähige Version, die auch in sämtlicher Sekundärliteratur herangezogen wurde. Die Formulierung „anderthalbhunderttusende menschen, frowen und man und kind“ bei Riegel stammt aus dieser Ausgabe. Schaut man allerdings selbst in die Edition, heißt es dort jedoch: „anderthalbhunderttusend“. Was bedeuten nun diese Klammern?

Mittlerweile steht uns eine hervorragende Neuausgabe der Richentalchronik zur Verfügung, die „auf der Grundlage der Aulendorfer Handschrift“1 erstellt wurde. Hier steht an der entsprechende Stelle „anderthalb tusend menschen“2. Ein Blick in die Aulendorfer Chronik selbst bestätigt diese Formulierung3. Offensichtlich erschien dem Herausgeber Michael Buck in der Ausgabe von 1882 die Originalzahl als zu gering, so dass er sie „verbesserte“. 1500 Menschen auf einem Platz sind aber durchaus realistisch.

Merke:

1. Richental, oder besser der Richental der Aulendorfer Ausgabe ist besser als sein Ruf!

2. Jeder, der sich mit dem Konstanzer Konzil näher beschäftigen will, sollte die neue Ausgabe der Richentalchronik von Thomas Martin Buck aus dem Jahre 2010 benutzen4.

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1 Riegel, Joseph: Die Teilnehmerlisten des Konstanzer Konzils. Ein Beitrag zur mittelalterlichen Statistik. Freiburg i. Br. 1916

2 Riegel 1916, S. 15

3 heute Pfalzgarten

4 zitiert nach der Faksimileausgabe der Konstanzer Handschrift fol. 122b. Feger, Otto: Ulrich Richental. Das Konzil zu Konstanz. Kommentar und Text, bearbeitet von Otto Feger. Starnberg-Konstanz 1964

5 Buck, Michael Richard: Ulrichs von Richental Chronik des Constanzer Concils 1414-1418. Tübingen 1882, (Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart, 158). ND Hildesheim 1982

6 Richental, Ulrich von; Buck, Thomas Martin: Chronik des Konstanzer Konzils 1414-1418. Ostfildern 2010, S. XXXVI

7 Buck 2010, S. 121

8 Richental, Ullrich v., Sevin, Hermann: Concilium ze Costenz, 1414-1418. Karlsruhe 1881. Diese Lichtdruckausgabe ermöglicht einen Blick in das Original, ohne nach New York reisen zu müssen!

9 Mittlerweile ist eine an einigen Stellen leicht veränderte zweite Auflagen erschienen